Bericht vom 30. Internationalen Paris Marathon (09. April 2006)


Es floss Blut, reichlich viel Blut, …

… doch der Reihe nach:
Donnerstag angereist, Messebesuch, Startunterlagen abgeholt. Freitag in unfreiwillig in eine Demo geraten, gut gegessen. Samstag Frühstückslauf von der UNESCO via Eiffelturm zur Avenue Foch, abends Pastaessen auf dem Montmartre.

Sonntag. Paris. Man schreibt den 09. April 2006. Mein vierter Marathon. Nach Berlin 2004 (05:02), Hamburg 2005 (04:58 ) und Berlin 2005 (04:17) hielt ich eine neue Bestzeit für realistisch. Meine Wettkampfzeiten in den Unterdistanzen signalisierten dies und ich hatte – wieder – streng nach Herbert Steffny trainiert. Ich fühlte mich fit, mental gut vorbereitet und war bereit das Unternehmen Bestzeit hier in Paris anzugreifen. Vier Stunden war mein Ziel. Auch mit einer 04:01:xx wäre ich glücklich gewesen – dann hätte ich die Vier-Stunden-Marke eben erst im Herbst in Berlin geknackt.

Start um 09:00h. Auf den Champs-Élysées. Und an dieser Stelle muss ich leider ein klein wenig abschweifen. Ach ja, die Champs-Élysées. Mit diesem Pracht-Boulevard verbinde ich emotional sehr viel. Rund ein Jahr lang durfte ich in der Nähe (unweit des Zielbereiches) leben und – für einige Monate in dieser Zeit war mein Arbeitsplatz am anderen Ende der Strasse, so dass ich diese täglich einmal auf und abspazieren musste. Ich kenne die CE bei Nacht und bei Tag, bei Sonne und bei Regen, im Winter und im Sommer, einsam, menschenleer und auch voll mit Touristen, Einheimischen und Autos. Ich habe auf den Champs-Élysées rauschende Feste miterlebt (gemeinsam mit Millionen anderen den WM-Sieg 1998 gefeiert), aber auch traurige Momente, wie direkt vor meinen Augen von gewalttägigen Jugendlichen Geschäfte geplündert und ausgeraubt wurden. Ich kenne die Strasse, wenn man sie nach einer Party in nicht mehr ganz nüchternem Zustand entlangtorkelt genauso, wie ich sie meinen Eltern bei deren Besuch ganz zivilisiert gezeigt habe. Ich habe auf den Champs-Élysées Quentin Tarantino getroffen und die Weltmeister von 1998 – genauso, wie die Clochards oder perspektiv-losen südländischen Jugendlichen der Vororte (Banlieues). Ich habe am Rande der Boulevards freudige Momente feiern dürfen, wie auch traurigen Gedanken nachgehangen … mit anderen Worten, dieser Boulevard bedeutet mir persönlich sehr viel, ich habe mit „meinen“ Champs-Élysées soviel Freund und Leid erleben dürfen und von daher war es für mich natürlich ein ganz besonders bewegender Moment, hier meinen vierten Marathon beginnen zu dürfen …

… das Wetter war hervorragend: sonnig, ca. 8 bis 9 Grad Celsius. Perfekte Marathon-Bedingungen eben. Es ging durch die Stadt an all den vielen wohlbekannten Häusern und Gebäuden vorbei, hinein in den Bois de Vincennes. Hier sogar teilweise ziemlich hügelige Steigungen. Am Schloss von Vincennes vorbei.

Bei der Halbmarathonmarke erreichten wir wieder die Stadtgrenze und liefen wieder in Pariser Stadtgebiet hinein. Ich lag bei etwa 01:55h und hatte damit ein sehr deutliches Polster auf meine Zielzeit geschaffen. Ich fühlte mich sehr gut und war guter Dinge, dass es so weitergehen würde. Doch dann kam der traumatische Kilometer 22. :-(

Rue Daumesnil. Leicht abschüssig. Eine Linkskurve. Achja, bevor’s gleich blutig wird, noch eine kurze Bemerkung: es war der 30. Paris Marathon. Also Jubiläum. Und da hatten die so viele Läufer, wie noch nie zuvor zugelassen. Eindeutig zu viele! Die ganze Strecke über musste ich eigentlich Slalom laufen, ein gleichmässiges Laufen im eigenen Rhythmus war nur äusserst schwierig möglich. Also immer ein grosser Pulk Läufer um einen herum. Kurz nach Km 22 in der Rue Daumesnil also erwähnte leicht abschüssige Linkskure. Ein Betonpylon mitten in der Laufstrecke !! Keine Vorwarnung, kein Warnschild, kein Streckenposten, nichts! Etwa bauchhoch das Ding, so dass ich es – im Pulk der Leute – nicht mehr rechtzeitig sehen konnte. Ich knalle mit voller Wucht dagegen und stürze mit der vollen Wucht der Laufgeschwindigkeit so unglücklich auf die Strasse, dass mein Kinn gegen die Beton-Bordsteinkante knallt. Sofort ergiesst sich Blut aus meinem Knie, meinen Händen und vor allem aus meinem Kinn.

Doch in Bruchteilen von Sekunden überlege ich mir: nää! Du musst jetzt noch 20 Kilometer laufen! Du hast monatelang bei Eiseskälte hart dafür trainiert! Du bist extra nach Paris gefahren! Du musst jetzt weiterlaufen! Aufstehen! Zähne zusammenbeissen und weiter! Einige Läufer um mich herum schreien „Arrête! Arrête!“ … aber ich jetzt nix „arrête“. Ich stehe jetzt auf und laufe einfach weiter. So, als wäre nichts geschehen. Das Blut strömt mir nur so über Shirt und Startnummer – aber glücklicherweise gibt es auf Marathonstrecken keine Spiegel! Hilfreiche Franzosen reichen mir Schwämme, Taschentücher … das ist sehr lieb und ich halte sie mir ans Kinn um den Blutfluss etwas zu hemmen. Aber ich laufe weiter. Ich höre das Signal eines Notarztwagens. Aber ich laufe weiter. Keine Ahnung, ob die jetzt für mich gerufen wurden, oder nicht … ich laufe weiter. Im Nachhinein denke, dass die Entscheidung weiterzulaufen, keine bewusste Entscheidung war, sondern eher eine intuitive. Ich laufe einfach weiter und weiter. Ich versuche, den Schmerz mental zu bekämpfen, lasse ihn einfach nicht an mich ran, ignoriere ihn. (Jetzt spricht der Laie, nicht der Fachmann): Neuro-biologisch gesprochen sind Schmerzempfindungen ja nur Reize im Hirn und ich versuche, diese Reize jetzt einfach mental zu überlisten indem ich ihnen entgegenhalte, dass ich diesen Marathon unbedingt weiterlaufen möchte!!

Als mir nach einigen Kilometern erst so richtig bewusst wird, dass ich hier ziemlich verblutet weiterlaufe (verblutet nicht im medizinischen Sinne, sondern im Sinne, dass mein Gesicht, Hals, Hände, Startnummer, Shirt, Hose alles voller Blut war), versuche ich die Ganze Sache etwas rationaler zu analysieren. Und stelle fest: man bereitet sich oft auf sooooo viele Eventualitäten vor, aber welche Auswirkung hat eigentlich erheblicher Blutverlust auf die Laufleistung??? Ich weiss es nicht. In der Tat: darüber weiss ich herzlich wenig, darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Aber ich laufe weiter. Ich sage mir ganz rational: wenn’s körperlich nicht mehr geht, dann breche ich sofort ab. Wenn ich anfangen sollte zu schwächeln oder mir schwindelig wird, breche ich sofort ab. Wenn keines dieser Körpersignale kommt, dann laufe ich eben einfach weiter. Durch einen Seine-Tunnel hindurch. Hier drin herrschen Temparaturen und eine Luft, wie im Treibhaus. Aber das macht mir in dem Moment nicht viel aus. Ich laufe, wie ein Fliessband, wie ein Uhrwerk. Ich laufe irgendwie nicht mehr richtig bewusst, sondern – in gewisser Weise – in Trance und denke: einfach nur weiterlaufen, weiterlaufen, weiterlaufen. Lass den Schmerz einfach mental gar nicht an dich ran! Ignoriere den Schmerz doch einfach! Genügt doch, wenn er dich im Ziel plagt. Immer wieder deuten Passanten oder Mitläufer mit dem Finger auf mich und sagen: „gugg mal, der blutet“, „gugg mal, der ist ja verletzt“. Ja, ich weiss. Aber ich laufe weiter. Und weiter. Und weiter. Ich gestehe, ich habe keine Ahnung, ob das etwa VERNÜNFTIG war, in dieser Situation weiterzulaufen. Aber nichts, rein gar nichts auf dieser Welt hätte mich dazu bewegen können, jetzt abzubrechen. (Wie gesagt: es sei denn, mein Kreislauf hätte zu schwächeln begonnen! So rational konnte ich noch überlegen, dass ich in dem Fall SOFORT aufgehört hätte). Aber diese Signale kamen nicht. Also laufe ich einfach weiter. … immer und immer wieder fängt es am Kinn an zu bluten … doch davon lasse ich mich nicht mehr beeindrucken. Ursprünglich war meine Startnummer die Zone grün. Jetzt ist es Zone blutrot!

Den Kilometer 32 erreiche ich nach exakt drei Stunden. Jetzt habe ich also noch eine volle Stunde Zeit, um das Ziel zu erreichen. Ein 6er-Schnitt genügt also. Gesagt – getan. Ich drossle das Tempo und laufe deutlich langsamer. Es geht durch den Bois de Boulogne. Und dann kommt das Ziel endlich in Sichtnähe (Dusano: ja, hier habe ich tatsächlich noch’n Foto gemacht). Ich liege jetzt deutlich unter 4h-Kurs und verlangsame deshalb nochmals sehr deutlich das Lauftempo, habe Zeit in aller Seelenruhe ins Publikum zu winken und laufe nach genau 03:58:51 nach dem Start über die Ziellinie – nur rund 100 Meter von der winzigen Wohnung mit Eiffelturmblick entfernt, wo ich vor acht Jahren gelebt habe.

Mein aller-aller-allererster Gedanke im Ziel war nicht etwa Freude über den Zieleinlauf, die neue Bestzeit oder das Knacken der 4-Stunden-Marke sondern war ganz einfach nur noch: „so, jetzt ab ins Rot-Kreuz-Zelt und erstmal verarzten lassen“.

Um’s kurz zu machen: mir wurde mit einer Jod-Tinktur und einem nicht sonderlich haltbaren Pflaster notdürftig aber sehr zuvorkommend geholfen. Ich war heute hier in Frankfurt beim Arzt – es muss nichts genäht werden und möglicherweise bleibt nichtmal eine Narbe. Also – ausser dem Blutverlust – nochmal ziemlich glimpflich verlaufen. Auf der Fahrt in der U-Bahn wurde ich zwar von allen Leuten angeschaut, wie das siebte Weltwunder – regelrecht begafft, wie ein Zootier. Als ich dann in der Pariser Wohnung in den Spiegel schaute, wusste ich auch warum: zusätzlich zu Shirt, Startnummer, Händen und Hose war vor allem mein ganzer Hals blutverschmiert und mein Gesicht eine rot-weisse Mischung aus Blut und Salzkristallen …

Meine neue Bestzeit und das Knacken der 4-Stunden-Marke konnte ich dann erst im Zug so richtig realisieren. Übrigens hat man in französischen Fernzügen (von Paris-Est nach Frankfurt in sechs Stunden, die mit Buch, MP3-Player und Schlaf wie im Fluge vergehen) alle Beinfreiheit der Welt. Fantastisch!


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© April 2006 erstellt von Martin J. Zimmermann.
Letzte Änderung dieser Seite: 12. April 2006.